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Der Flirt mit dem Geld
Ich habe mir über Geld nie Gedanken gemacht. «Es kommt und geht», sagte mein Vater immer und erwähnte auch, «Hätte ich all das Geld, das schon durch meine Hände gegangen ist, wäre ich Millionär». Mit philosophischen Betrachtungen allein kommen wir nicht weiter.
Es ist wohl so wie mit einer sehr guten Freundin. Ist sie um einen, gewöhnen wir uns daran, und erst wenn sie einige Zeit von uns getrennt lebt, wird uns ihr Wert bewusst.
So ist die Beziehung zu unserem Geld ähnlich. Je leidenschaftlicher wir mit ihm flirten, umso leichter lässt es sich an uns binden. Wehe dem, der offen zugibt für ihn wäre das Geld nur Mittel zum Zweck. Mittel, um sich all die schönen Dinge leisten zu können, die man zum Leben brauchen glaubt. Es könnte beleidigt sein und ihn in Zukunft meiden.
Der Flirt mit dem Geld. Wie soll das funktionieren? Geld existiert aber es spricht nicht. Geld fühlt sich gut an aber es wird nicht zärtlich. Wir gehen mit ihm aus, zum Essen und ins Kino und doch fühlen wir uns in seiner Gegenwart nicht glücklich. Wir gebrauchen es aber wir nehmen es nicht als wichtigen Bestandteil unseres Lebens wahr. Ist dies der kleine Unterschied, der darüber entscheidet, ob jemand reich wird oder arm bleibt? Versuchen wir den Flirt mit dem Geld.
So setzen wir uns hin, nehmen unseren Geldbeutel zur Hand und betrachten eingehend den Inhalt. Die Visitenkarten, die Konto- und Kreditkarten und das lächelnde Gesicht der Freundin interessieren die nächste halbe Stunde mal nicht. Und nehmen wir einmal an sie, entdecken 12 Euro 59 Cent darin. Stellen sie sich vor, was sie am liebsten damit machen würden. Das Kino fällt ihnen ein. Zweieinhalb Stunden einen Film schauen, entweder Action oder Liebeskomödie. Das würde ihnen heute Abend sehr gefallen.
Schauen sie wieder in ihren Geldbeutel und betrachten sie intensiv jeden Geldschein und jede Münze. Der Flirt mit den 12 Euro 59 Cent hat begonnen. Zärtlich berühren sie Ihren Geldschatz. Nein, Kino wäre zwar toll, aber sie lieben diese 12 Euro 59 Cent so sehr. Sie sind zu ihnen gekommen und sie vertrauen ihnen. Sie werden sie beschützen und für sie sorgen und das wird sich unter all den Geldscheinen und Geldmünzen dort draußen in der Welt herumsprechen und all diese wertvollen bedruckten und gedruckten kleinen Kunstwerke werden zu ihnen kommen und bei ihnen bleiben wie die Goldstücke zu Dagobert Duck.
So sitzen sie also im Wohnzimmer und träumen davon, wie sich die 12 Euro 59 Cent vermehren werden. Nehmen sie sie erneut liebevoll in die Hand – ihre 12 Euro und 59 Cent – bilden sie mit beiden Handinnenflächen eine Kugel und schütteln sie sie, sodass sie dem hellen Klang der Münzen lauschen können. Das ist die Sprache des Geldes, ein verruchtes Rascheln und ein fröhliches Geklimper.
Nach einer Viertelstunde Flirt legen wir den Geldschatz offen auf den Tisch. Es dürstet sie nach einer Tasse heißem, duftendem Kaffee und kaum zieht das Aroma aus der Küche ins Wohnzimmer, sagt ihnen ihr Geschmacksinn etwas Gebäck dazu wäre nicht schlecht. Sie schielen zu ihrem Geldschatz. Eine Packung Butterkekse für 2 Euro 44 Cent könnten sie sich locker leisten. Sie könnten schnell zum Laden an der Ecke und sobald sie zurückkommen, wäre der Kaffee noch immer heiß und die Butterkekse knusprig und süß.
Wieder betrachten sie ihre 12 Euro 59 Cent. Sie schütteln entschieden den Kopf. Diese Liebe kennt keine Kompromisse. Sie sind fest entschlossen ihren 12 Euro 59 Cent treu zu bleiben. Und irgendwo tief in ihnen spüren sie auf einmal was Menschen durchmachen, die es geschafft haben reich zu werden aber dafür jahrzehntelang auf ihr Kino und ihre Butterkekse verzichtet haben. Die Liebe zum Geld erfordert höchste Disziplin und Enthaltsamkeit in anderen Dingen.
Die ersten zwei Versuchungen haben sie glücklich überstanden. Ihre 12 Euro 59 Cent haben sich vom Tisch nicht fortgerührt. Auf sie ist Verlass. Wo findet man heutzutage noch diese stille, hingebungsvolle Treue?
(Auszug aus «12 Euro 59 Cent – oder – Der Flirt mit dem Geld»)
Hans-Jürgen John ist auf Twitter, auf Facebook und bloggt u.a. auf Johntext Schweiz.