Die Lüge neben der Wahrheit und der Klarheit von Hans-Jürgen John

Die Lüge neben der Klarheit und der Wahrheit

Inspiriert durch Werner Theis: «Klarheit und Wahrheit» / 6. Juni 2012 auf www.tage-bau.de

Die Wahrheit und die Klarheit. Die gingen einmal zusammen zur Lüge. Gemeinsam sind wir stark! Fühlten und dachten sie ohne Argwohn. Der Lüge werden wir es schon zeigen!

Gerade vor der Dönerbude in Berlin-Mitte sahen sie sie wieder. Die Wohlbekannte und so wenig Geschätzte und doch so oft Bemühte. “Dönerfleisch ist das Beste überhaupt! Es kommt gleich nach Filet. Manche meinen noch davor!” Sagte der Ladenbesitzer und ließ die Hackfleischrechnung zusammengefaltet unter den Hunderteuroscheinen in der Kasse verschwinden. “Wirklich? Das ahnte ich schon immer! Was so gut schmeckt, muss gesund sein!” Sagte der Kunde, streifte das Fladenbrot in seiner Hand, den Salat mit der Joghurtsoße und der vermuteten Fleischfüllung darunter mit hungrigem und zufriedenem Blick, bezahlte, dankte und ging hinaus in das Schneetreiben, welches der redaktionseigene Wetterfrosch am Morgen noch als Sonnenschein bei 27 Graden angekündigt hatte.

“Sollte ich meiner Frau heute Blumen bringen? Oder nimmt sie dann erst recht einen Seitensprung an?” Alles konnte richtig oder falsch ausgelegt werden, hatte erst einmal das gutmütige Vertrauen die Beziehung verlassen. Der gut aussehende, bestgekleidete Mittfünfziger entschloss sich, bei seiner Sekretärin vorbeizusehen. Zuvor würde er noch seinen besten Freund anrufen, um sich für alle Fälle ein Alibi zu besorgen.

Die Klarheit und die Wahrheit waren sprachlos. Wie konnten sie der Lüge gegenüber bestehen? Die Lüge war dermaßen aktiv, attraktiv und allgegenwärtig. Sie versprach Vorteile, wo von Ehrlichkeiten und Direktheiten nur Langeweile ausging. Die Lüge war die kecke Blondine unter den ruhigen, anständigen Brünetten. Immer auf dem Sprung. Immer bereit, interessierte Männerblicke auf sich zu ziehen und zu binden. Die Lüge war der Bodybuilder mit den Muskelblähungen. Mehr Schein als Sein und doch so attraktiv, dass es der Wahrheit und der Klarheit die Neidglut bis unter die Haarwurzeln trieb.

“Und doch”, die Wahrheit hob den beweisenden Zeigefinger, “was wären wir ohne unser Gegenteil, die Lüge? Sie begleitet uns und wir ziehen mit ihr umher. Mitunter verwechselt man uns mit ihr. Und es sind gewaltige Anstrengungen nötig, um uns von ihr zu trennen, kamen wir ihr zu nahe.”
„Richtig“, die Klarheit nickte begeistert. „Die Lüge hat eine wichtige Aufgabe. Sie zeigt den ehrlichen Menschen die unreifen und hilfebedürftigen Mitmenschen. Es ist, als würde die Lüge die Menschen, die sie benutzen und sich von ihr begleiten lassen wie mit Farbe markieren. Unehrliche Menschen versuchen, jede neue Unwahrheit im Augenblick der Entdeckung mit dem entlarvenden Mantel einer weiteren Lüge zu bedecken. Sie heben sich gegen ihre Umgebung wie der Mohn in der Heide ab. Unverwechselbar. Gefangen in ihrer Welt, die sie sich wortreich und nervös teils mit rauchgeschwängerten Worten erschaffen und dabei durstig und sehnsüchtig auf die labende Wahrheit schielen, die geduldig unerreichbar und unscheinbar um ihren geraden Lebensweg weiß und ihn geht.”
Die Wahrheit wiegte nachdenklich den Kopf. “Wenn die Lüge den Menschen so viel Schlechtes bringt. Wieso kann sie dann trotzdem überall Fuß fassen, wie das Unkraut neben der Kartoffel gedeiht, ja sie noch überwuchern möchte?“

Die Klarheit nickte geduldig. „Auch der Wind kennt weder gut noch schlecht, weder nützlich noch überflüssig. Er transportiert alle Samen. Doch gäbe es das Unkraut nicht. Wir würden die Nutzpflanzen weniger lieben. Gäbe es die Lüge nicht, wer käme auf die Idee uns, die direkte Wahrheit und die unbestechliche Klarheit einzuladen, als gern gesehene Gäste willkommen zu heißen und zu schätzen? Die Nacht braucht den Tag, um sichtbar zu werden. Das Licht braucht die Gegenstände, auf die es treffen darf, um jede Fläche und jede Farbe in Helligkeit zu baden. Wir brauchen die Lüge in unserem Schatten, um mit Wohlwollen von guten Menschen gerufen zu werden. Wasser verdunstet ohne die Hitze des Feuers nicht. So schätzen wir die Lüge kaum. Doch wären wir ohne sie so unvollständig wie die Vergangenheit ohne die Zukunft. So sinnlos wie das Leben ohne den Tod. So wertlos wie die Gesundheit, ohne die allgegenwärtig drohende Krankheit.

Die Menschen können in den Supermarkt der Eigenschaften gehen und wie aus vielen möglichen Verhaltensweisen auswählen. Das Angebot ist groß und überwältigend. Sie werden müde dabei. Zu viele Entscheidungen in zu kurzer Zeit. Und ist die Müdigkeit nicht der Schutz vor zu viel Sensibilität? Eine Gnade, die uns per Schlaf gewährt wird. Gäbe es den Mond nicht mit seiner von Meteoriteneinschlägen zerfurchten, trostlosen Oberfläche, wir würden die Erde, diesen wunderbaren blauen Planeten weniger schätzen. Und so wohnen in uns die selbstlose Liebe neben dem egoistischen Hass, der überflüssige Zorn neben der wertvollen Nachsichtigkeit und die willkommenen Glücksgefühle neben den Nervenzellen, die Pein und Schmerz an das Bewusstsein melden und bisweilen zusammen mit der Ohnmacht ausschalten.“

„Dann lassen wir sie also gewähren, die Unermüdliche. Ohne die Lüge sind wir nichts und ohne uns ist sie weniger.“ Die Klarheit und die Wahrheit nickten ergeben einander zu. «Und den Menschen empfehlen wir unsere Kollegin, die Wahl. Wählen sie die Wahrheit, so wählen sie den Glauben daran mit. So wie der Lügner den Glauben an seine Worte im Gegenüber herbeisehnt, so begleitet er notgedrungen früher oder später sein Spiegelbild, den ehrlichen Menschen über die Wahrheit ohne Vorbehalt und vertrauensvoll zur Klarheit.”

© 2012 Hans-Jürgen John

Hans-Jürgen John ist auf Twitter, auf Facebook und bloggt u.a. auf Johntext Schweiz.

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