Das Baby (1998) Ein Roman

Man schrieb das Jahr 1960. Das ist nicht weiter wichtig, aber es ist eine der Tatsachen in der nun folgenden Geschichte. So wie es geschah, dass an einem der Tage in diesem Jahr, morgens um halb acht, als der Raureif noch gegen die helle Wärme des sich abzeichnenden Sonnentages bestand, ein Kind geboren oder sagen wir besser in diese Welt geworfen wurde.
Seine Mutter, Fließbandarbeiterin aus einer Universitätsstadt nahe dem baden-württembergischen Stuttgart in Mitteleuropa gelegen und dort in Deutschland, hatte es ebenda auf ihrem morgendlichen Weg zur Arbeit das Licht einer weitläufigen Grünanlage erblicken geheißen.

Eine halbe Stunde später, und die Niederkunft hätte in der wenig ungestörten Atmosphäre der Fabrikhalle zwischen neuesten und älteren Kopfgeburten ganzer Generationen von Ingenieuren stattgefunden. Ja, dort inmitten des lärmumtosten Arbeitslebens hätte es den richtigen Eindruck von der Erde bekommen, die es einmal regieren wollen würde. Aber nein, wir verdanken der unbekümmerten Schamhaftigkeit einer jungen, verzweifelten Mutter, dass sich die Welt in seinen kleinen Augen spiegelte, wie sie für es nicht so bald wieder sein würde: Erfüllt vom abwechslungsreichen Gezwitscher eines entflogenen Wellensittichs und dem Rauschen herannahender, dann weiterziehender Scharen verschiedener einheimischer Vogelarten.
Eine Welt, friedlich, wenn man vom ersten Schrei des Neugeborenen absah, der fremd wirkte, besitzergreifend, ein Laut, der seiner Mutter ans Herz griff, dann aber verstummte und losließ.

Nur so lässt sich mit ungläubigem Entsetzen und aus heutiger Sicht erklären, dass sie ihr Neugeborenes unter die grüngestrichene Bank gleiten ließ und davonging. Sie hatte ihr als Unterlage gedient, um es endlich nach neun Monaten aus sich herauszudrücken, so wie man nach dem Genuss einer üppigen Mahlzeit seine Notdurft verrichtet. Nur dass im vorliegenden Fall ein paar schöne Stunden in neun Monaten verdaut werden mussten.
Sie erinnerte sich noch an den Vater, nein besser gesagt, an die Nacht mit ihm. Mehr noch als Personen merkte sie sich Handlungen. Was blieb auch von den Lebendigen in den Geschichtsbüchern außer der Abbildung ihrer Totenmaske, dem Schein ihres Aussehens und der Beschreibung dessen, wozu sie fähig gewesen waren, ihre Handlungen und Taten, egal, ob sie widerwärtig gemein, oder als vorbildlich und somit unbedenklich für die Nacheiferung zu bezeichnen waren.

Im Rückblick schien am Anfang der Vergangenheit das Gute im Gleichgewicht zum Bösen bestanden zu haben. Fast war man geneigt, zu sagen, dass es im Gleichschritt mit dem Bösen am Anfang der Zeit einmarschiert war.
Erst seit es ein undisziplinierter Haufen geworden war, der sich ungleich über die Lebensspanne der Erdlinge verteilte, war es unberechenbar, ungerecht geworden.
Die junge Mutter scherte sich nicht weiter um die Gesetzmäßigkeiten, denen Glück auf der Erde unterworfen war. Schicksal nannte sie ihre Lebensumstände und litt darunter, dass sie nie den Versuch unternommen hatte, Initiative zu ergreifen, etwas daran zu verändern. Das Leben vernachlässige sie, war ihre Überzeugung, und sie bemühte sich nach Kräften diese Ungerechtigkeit, wie sie meinte, wenn nicht vermeiden zu können, so doch mildern zu suchen.
Sie dachte anfangs voll Verlangen an den Mann, dessen Kind sie unter dem Herzen trug. Sein Gesicht, ja die ganze Physiognomie seiner Gestalt waren ihrem Gedächtnis entfallen. Nur die Gefühle, die seine Gegenwart, seine Hände, seine Lippen, sein Körper in jener Nacht ausgelöst hatten, waren noch nicht abgenutzt, durch neue Erfahrung beschmutzt. Zu oft hatte sie sie wachgerufen, wenn der kleine Körper, ihr gemeinsamer Fleisch und Blut gewordener Trieb, sich regte, von innen gegen die Bauchhöhle tapste. Zu oft hatte sie sich alleingelassen gefühlt und sich nach dem Trost seiner rauen, warmen Stimme gesehnt, zu oft fand sie sich mit Suizidgedanken wieder. Das Baby sei die Ursache, fand sie. Und da sie diese Überlegung niemandem mitteilte, weil niemand ihres Zustandes gewahr wurde, geschweige denn, dass sie die Frucht in ihrem Bauch und damit sich selbst durch Worte bloßgelegt hätte, die nur wieder selbstbezichtigend gewirkt hätten, da sie sich zurückzog und niemand offenbarte, konnte die stille Anklage der Mutter parallel zu den Entwicklungsstadien des Embryos gedeihen.
Sie saß neun lange Monate über es zu Gericht, ohne dass es sich hätte verteidigen können, ohne dass es einer Beweisaufnahme, eines Gesetzbuches oder eines Plädoyers bedurft hätte. Das Fernbleiben des Vaters beraubte das Kleine jeglicher Interessensvertretung und ließ zu, dass sich seine Mutter mit den Rollen einer Anklägerin und Richterin zugleich betraute. Dem Manne, der seinen Samen in sie hineingeschleudert hatte, ohne ein Kondom zu verwenden, gab sie keine Schuld. Die Hitze dieser Nacht hatte ihm keine andere Rolle als ihr zugedacht. Ohne daran zu denken, dass sie die Pille aus der Arzneimittelpackung herausnehmen und anwenden müsste, auf dass sie ihre Unvorhergesehenheit verhütende Wirkung entfalten könne, hatte sie ihren Liebhaber gewähren lassen, ihn durch ihr Gebaren nach besten Kräften ermuntert und schließlich unterstützt.
Es gab also Beteiligte, vielleicht zwei Schuldige beim Tathergang dieser Zeugung. Ihr Partner war längst nicht mehr zugegen, sich selbst wollte sie nicht anklagen, und so schob sie neun lange Monate, drei Viertel eines Jahres, dem Ergebnis ihrer Zusammenkunft die Schuld gemeinsamer Entgleisung zu. Dem zu, das sich nicht wehren konnte. Dem Kinde. In ihren Augen war es schon schuldig geworden, bevor es geboren ward. Schuld daran, die Leben zweier freier Menschen durch seine Geburt binden zu wollen. Schuld daran, ihr neun Monate ihres Lebens geraubt zu haben. Schuld an den Schmerzen, dem dauernden Unwohlsein, welches sie ertragen musste. «Du bist schuld», sagten ihre Gedanken, wann immer sie des in ihr wachsenden, sich regenden Lebens gewahr wurde. Die ganze Wut, zu der sie fähig war, legte sie in diese Anklage, diese Worte der Unsicherheit und Zukunftsangst. Warum sie nicht hatte abtreiben lassen? Immer noch war da Hoffnung gewesen, die Hoffnung, dass ihr Lover eines Tages auftauchen würde, getrieben von erwachendem Verantwortungsgefühl oder auch bloß einem schlechten Gewissen oder, und sie klammerte sich an diesen Funken Unverstand, weil er die Liebe zu ihr neu aufflammen fühlte.

Sie ertrug duldend alle Unannehmlichkeiten, die Schwangerschaft mit sich brachte. Sie zog sich von ihren Freundinnen zurück, trug weit geschnittene Röcke, die dem Begriff Umstandskleidung gefährlich nahe kamen. Glück im Unglück meinte sie zu haben, als sich die Zeichen der Schwangerschaft nach außen in Grenzen hielten. Aber er, für den sie glaubte Zukunftsperspektive zu schaffen, indem sie das gemeinsame, sein Kind austrug, er kam nicht.
Und je näher der wahrscheinliche Zeitpunkt ihrer Niederkunft heranrückte, um so weiter entfernte sie sich wie in Vorbereitung des Vorganges, dass das Baby ihren Leib verlassen würde auch innerlich von ihm.
Ohne den Vater wollte sie das Kind nicht. Indes er kam nicht. Aus diesem Wissen heraus war es ihr auch erst möglich im Augenblick der Geburt dem kleinen Körper zwischen ihren Beinen die Existenzberechtigung zu versagen. Mit ihm verließ alles Schlechte, das sie damit in Verbindung brachte ihren Leib, und als sie ihren Weg zur Arbeit fortsetzte, auch ihr Leben. Die Mutter ging ihrer Wege und ließ das Kind, den Teil von ihr, für den sie einmal Verantwortung übernommen hatte, indem sie verantwortungslos handelte, auf einem von ihnen zurück.
Schreiend lag es im noch feuchten Gras, nackt wie Adam vor der Vertreibung aus dem Paradies gewesen sein soll, nur sehr viel jünger, schutzloser, wenig mehr lebensfähig, als dass es durch sein Geschrei in der Lage war Hilflosigkeit auszudrücken, Hilflosigkeit, auf dem Wege zur helfenden Aufmerksamkeit seines Nächsten eine der am weißesten flatternden Kapitulationsfahnen des Menschen im Gegenwind selbstgenerierten Schicksals.
Ein Bündel Leben, noch lange nicht fähig, auf der Bank zu sitzen, unter der es zitternd lag. Dort blutend, wo seine Mutter die Nabelschnur mit einer Nagelschere durchtrennt hatte.

© 1998 – 2011 Hans-Jürgen John

Ende der Leseprobe

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