Die Waage – oder – die Besiegung der Schwerkraft (2008) Roman

Einleitung

Mitunter leben wir den Alltag, ausdauernd, beharrlich, nehmen Sorgen und Freude, wie sie uns vom Schicksal serviert werden und hoffen insgeheim, dass es Menschen gibt, die durch ihr Wissen und Streben, ihren Ehrgeiz und vielleicht mit einem gewissen Quantum an Verrücktheit ausgestattet die Umstände ignorieren, denen wir ausgeliefert sind, nach dem Besonderen Ausschau halten, es verfolgen, Herzblut investieren und dann erfolgreich sind.

Auf dass wir oder noch besser, weil letztlich für uns weniger anstrengend, unsere Kinder sich ein Beispiel daran nehmen und lernen und nacheifern und begehren und sich einen Namen machen.

Denn jeder möchte, dass die Welt seinen Namen nennt und kennt und er in irgendeiner Weise aus der Masse herausragt, sei es, weil er einen Kopf größer ist wie Abraham Lincoln oder einen Kopf kleiner wie Napoleon, besonders dick wie Robbespierre oder besonders dünn sei, über alle Maßen geschickt oder mit zwei linken Händen ausgestattet, erschreckend klug oder hervorragend dusselig, durch sein Verhalten geheiligt wie Jesus oder durch grausames Tun geächtet wie Hitler und Stalin.

Es gehört zu den Eigenarten des Menschen, der dunklen Seite des Lebens genauso zugetan sein zu können wie der guten, solange ihm sein Verhalten nur Aufmerksamkeit verspricht.

Einfach so ist es zu erklären, dass es Bankräuber gibt und Friedensnobelpreisträger, Mörder, Vergewaltiger und Heiligsprechungen. Das Böse ist in den Geschichtsbüchern nicht geächtet, es wird erwähnt und beschrieben, fast möchte man meinen, Ivan der Schreckliche genieße mehr Beachtung als seine vielen Opfer. Er wird genannt, gemalt, es werden Filme über ihn gedreht und Theaterstücke aufgeführt.

Gut zu sein ist möglich, gewöhnlich, unspektakulär und langweilig.

Leseprobe:

In unserer Zeit lebte in Deutschland ein Mensch, der dem Durchschnitt in allen seinen Lebensfacetten angehörte. Er war gerade 36 geworden und verdiente mittelmäßig. Er wohnte und reiste, aß und trank, rauchte und liebte, roch und sang weder aufregend noch schlecht.

Sein Name war Schmidt, sein Aussehen glich dem seines Nachbarn Müller, er hatte ein Handy und besaß bis vor Kurzem noch Auto und Ehefrau und einen Fernseher. Wie die meisten Ehen in seinem Bekanntenkreis war auch die seine nach wenigen Jahren in die Scheidung übergegangen.

Schmidt war durchschnittlich verschuldet, redete durchschnittlich viel oder wenig und war sich bewusst, dass er um die statistische Lebenserwartung herum den Löffel abgeben würde, wenn, ja wenn es nicht vorher noch eine Naturkatastrophe gab. Ein über alle Maßen gewöhnliches Leben also und in dieser Hinsicht war keine Änderung abzusehen.

Schmidt glaubte an eine gewisse Gerechtigkeit im Leben. Er strebte wenig nach den Früchten, die zu hoch hingen und Genuss versprachen, aber denjenigen, die danach griffen möglicherweise den Sturz von der Leiter bescherten. Alles sei in einem gewissen Gleichgewicht, dünkte ihm. Es gab das Gute wie das Böse, die Reichen und die, die von den Armen lebten, die Armen und die, die für die Reichen arbeiteten und viel dazwischen.

Von allen technischen Entwicklungen waren ihm die Entdeckung der Elektrizität und ihre Anwendungen am wichtigsten. Erlaubte sie ihm doch, Musik zu hören, abends lange zu lesen, durch Geschirrspüler und Waschmaschine mühselige Arbeiten erledigen zu lassen und nicht zuletzt fernzusehen. Eigentlich hatte der Mensch es weit gebracht.

Eine Zeitmaschine dürfte es noch sein, sinnierte er eines Abends zwischen einem Schluck Rotwein, Südhang, und einem Stück Currywurst, Imbisstand Ecke Keltergasse/Büchsenstadel. Der Rotwein fand seinen Weg. Die Currywurst ging den Weg von der Gabel über seine Hose zum Fußboden und hinterließ – wie ärgerlich – einen Fleck auf seiner feinen, bis dahin komplett hellgrauen Stoffhose. Er fluchte. Wieso erfand diese ganze Armada von Eierköpfen nicht einmal etwas Nützliches? Wozu sollte ein Suppenteller mit schräger Bodenfläche gut sein? Oder das Licht in der Frauenhandtasche? Oder wem zum … nützte …

Die letzte große Herausforderung dieser Zeit war – zugegeben neben der Zeitmaschine, die es Politikern erlauben konnte, besonders grobe Fehlentscheidungen wieder rückgängig zu machen und so die nächste Wiederwahl nicht zu gefährden – ja was?

Schmidt wusste nicht, wie er es formulieren sollte: Alles war eben zu schwer. Das Aufstehen am Morgen, das Joggen, das Fahrrad treten, mitunter mit dem Auto zu fahren, war man gerade mitten in einem Stau. Schmidt kam in Fahrt: Er hasste das lästige Tüten schleppen am Wochenende bei Aldi, Lidl, Norma und wie die Märkte alle hießen, die billig versprachen und Mühsal garantierten, der Wintermantel wog schwer, die Bergstiefel, die ja zum Wandern gemacht und gedacht waren und nicht als zusätzlicher Ballast. Ja und er, er hatte es besonders schwer. Ein paar Kilo zu fiel um die Bauchgegend herum versprachen Herzrasen beim Treppen steigen und Schweißausbrüche, und wenn man den Experten glauben mochte einen frühen Herzinfarkttod.

Die Waage im Badezimmer stand kurz vor einem Dasein auf dem Dachboden. Wieso eigentlich nicht im Keller, fragte er sich und lieferte die Antwort gleich selbst. Den Keller suchte er regelmäßig auf, der Dachboden war für eine Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Strategie erfolgreicher. Abnehmen? Nein, das bedeutete, dem Genuss entsagen und den unsichtbaren Kräften, die an ihm zerrten und allgemein Erdanziehungskraft oder Gravitation genannt werden nachgeben und beugen. Die Waage zeigte diese Kräfte an, sie würde zuverlässig auch jede Veränderung anzeigen. Er träumte vor sich hin, sah sich als Wohltäter der Menschheit. Sie würden ihm zujubeln, ihn verehren – er würde als erster das Joch des Gewichtes von ihnen nehmen. Der Nobelpreis in Physik war ihm gewiss. Ein Hochgefühl überkam ihn, wie so oft, wenn er vor sich hin träumte und dann überwältigt von der eigenen Genialität, gleichwohl sie nur eingebildet war – nichts weiter unternahm.

Ein kleiner Stein auf der Waage, verschiedene Versuchsanordnungen drum herum und mit einem Auge immer die Anzeige beobachten. So stellte er sich seine Zukunft als Forscher vor. Wissen auf diesem Gebiet war ihm fremd. Kindliche Neugier und Geduld würden sein Werkzeug sein, sinnierte er und trank in einem Zug den kalten, bitteren Kaffee, als wäre dies der Schwur auf eine schwerelose Zukunft der Menschheit.

Er schaute sich um. Wie so oft waren seine Gedanken in die Zukunft entflogen und konstruierten eine Wirklichkeit, die ihn das Hier und Jetzt ertragen ließen. Er bekam selten Besuch. Ein Vorteil. Die Zeitabstände zwischen Aufräum- und Putzaktionen waren entsprechend dehnbar. Kleidungsstücke, Zeitschriften und Bücher waren im Raum verteilt. Eine Matratze unter der einen Dachschräge, ein Fernseher ohne Ton und mit Bild. Das Sofa, der Tisch und zwei Koffer unter der anderen Dachschräge. Ein Dachfenster über dem Sofa, ein Fenster am Giebel. Einer der Vormieter hatte wohl mit dem Luftgewehr Bleigeschosse in die Holzverkleidung der Wände gejagt. Die flächenmäßige Konzentration ließ Zielübungen auf Plakate oder andere Objekte vermuten. Er musste lächeln, waren es Wahlplakate gewesen? Sven nieste. Es gefiel ihm hier. Er arbeitete viel und kam nur zum Schlafen hierher. Ein Werbeplakat eines lokalen Radiosenders hing an der Wand gegenüber dem Giebelfenster.

Kam er abends nach Hause und schaltete das Licht an, erstrahlte über einem Meter Höhe und eineinhalb Meter Breite das strahlende Lächeln einer unbekannten Schönen. Er hatte das Poster eines Abends, als er auf den Bus wartete, vom Zufall bekommen. Am Busbahnhof in Tübingen. Zur rechten Zeit am richtigen Ort, sinnierte er. Seitdem schöpfte Sven Kraft aus diesem Lächeln wie aus einem unerschöpflichen Brunnen und wunderte sich jeden Abend von Neuem, dass es nicht nachließ, sich durch sein Starren abnutzte, verblasste, versiegte. Kraftquellen, welche nur per Definition existieren, sind unbegrenzt nutzbar.

Das Fliegen zu erlernen war der Menschheit vergleichsweise einfach gemacht worden. Die Vögel hatten es die Menschen durch ihr Beispiel gelehrt. Wie jedoch die Gravitation ausschalten? Sein Blick blieb am Lichtschalter neben der Tür hängen. Dafür gab es in der wundervollen Vielfalt der Natur dieser Erde kein bekanntes Phänomen. Seine Augen wanderten weiter bis zum Handy auf der weißen Restauranttischdecke. Oder war abschirmen besser? Wodurch? Edison sollte 9000 Versuche gemacht haben, bevor er das richtige Material für den Glühfaden der Leuchtbirne gefunden hatte. Trial and error. Wie vorgehen? Er brauchte eine Waage mit sehr genauer Anzeige bis in den Milligrammbereich hinunter. Dann galt es, eine Liste mit zu erprobenden Materialien anzufertigen, Versuchsprotokolle aufzustellen. Ließ sich die Erdanziehungskraft auch nur ansatzweise durch Materialien abschirmen, die auf dem Planeten existierten? War eine Legierung der Schlüssel für die schwerelose Zukunft oder eine noch unbekannte Substanz? Die Waage würde es anzeigen.

Nervös fuhr er sich mit der rechten Hand durch die Haare. Vielleicht war die Lösung so einfach, dass sie bisher schlichtweg übersehen worden war. Oder war sie nur im All zu finden? Dort war es kalt und es herrschte außer Reichweite der Planeten und Sterne Schwerelosigkeit. War Kälte der Schlüssel? Seine Gedanken und Gefühle drifteten weiter ab in die Realität, die bereits die Ergebnisse seiner Forschung nutzen konnte. Es würde keine Parkplatzprobleme geben, Autos konnten an der Dachrinne festgemacht werden oder an der Satellitenschüssel. Ältere Mitmenschen, ansonsten bettlägerig oder nur mit Gehhilfe unterwegs, schwebten putzmunter durchs Küchenfenster im dritten Stock hinunter zum Bäcker, um mal den täglichen Bedarf zu decken. Der steigende Energiebedarf weltweit und damit die Abhängigkeit von den erdölproduzierenden Ländern war kein Problem mehr. Zur Beförderung großer Lasten war die Energiemenge ausreichend, die in einem Kinderfinger steckte.

Ein Donnergrollen riss Sven aus seinen Träumen, ein Gewitter kündigte sich an. Er benötigte eine Waage, die so genau war, dass ihm auch kleinste Forschungserfolge nicht entgingen. Das stellte ein finanzielles Problem dar. Er könnte Gitarrenunterricht geben, erwog er und so die Anschaffung einer gebrauchten Waage ermöglichen.

Je länger er über das Projekt nachdachte, umso mehr Hürden bauten sich vor ihm auf und ließen es unmöglich erscheinen. Er feuerte die Fernbedienung des Fernsehers in Richtung Sofa. Nein! Er hatte im Lauf seines Lebens so viel begonnen und nicht zu Ende geführt, dieses eine Mal würde er nicht kapitulieren, dafür war er vom positiven Nutzen des Ergebnisses zu sehr überzeugt.

© 2008 – 2011 Hans-Jürgen John

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