Ich heisse Elina (2000/2001)

Beiträge unter Pseudonym «Elida» in den Jahren 2000/2001 im Rahmen des Projektes Tage-Bau des Berliner Zimmers (www.tage-bau.de)

Ich heisse Elina  1. Teil

«Mein Papa heißt Stefan und arbeitet in einer Firma, die Computer baut.» Die Lehrerin nickte interessiert. «Wie heißt sein Beruf oder die Tätigkeit, die er dort verrichtet?» Elina zögerte. «Ich weiß es nicht», gab sie schließlich zu. Sie hatten als Hausaufgabe für heute aufgehabt, ihre Eltern nach deren Beruf zu fragen. Bei ihrer Mutter war das einfach gewesen. Sie arbeitete stundenweise in der Küche eines Restaurants. Ihren Vater hatte sie nicht fragen können. Er war wie die Tage zuvor sehr spät nach Hause gekommen. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, wach zu bleiben, um ihn nach seiner Arbeit zu fragen, war sie dann doch eingeschlafen. Sie hatte keine Visionen und war nicht in Fatima geboren und so wiederholte sie auf die Frage der Lehrerin nur, was schon ihre Mutter gesagt hatte: «Er arbeitet mit Computern, ich weiß nicht wie man so etwas nennt.» Die Lehrerin, Frau Baumgärtner zog ihre Stirn in Falten. Das passierte immer, wenn sie die Augenbrauen hob, weil sie unzufrieden war mit dem, was sie zu hören bekam. Sie war sehr kritisch. Man konnte es ihr nicht oft recht machen. «Ist er studierter Informatiker oder vielleicht IT-Fachmann?» Elina rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. Sagte sie ja, so war das gelogen. Sagte sie nein, so hatte sie keine Ruhe vor ihrer Klassenlehrerin, bis diese alles bis ins kleinste Detail über ihren Paps wusste. «Ich weiß es nicht, es tut mir leid. Ich sehe meinen Vater sehr selten, weil er so viel arbeitet. Ich werde ihn am Wochenende fragen. Ganz bestimmt.»

Ich heisse Elina  2.Teil

Frau Baumgärtner schaute skeptisch. Was sollte sie nur mit diesem Kind anfangen? Immer vertrödelte Elina ihre Hausaufgaben. Wenn sie kein Zeichen setzte – bis hierher und nicht weiter – war es mit ihrer Autorität nicht weit her. Fast dreißig Jahre war sie nun schon Grundschullehrerin. Sie hatte es bis zur Schulleiterin gebracht. Aus der fürsorglichen, sanftmütigen jungen Frau aus den Anfangsjahren ihrer Beamtenlaufbahn war eine nervlich angeschlagene, strenge und herrschsüchtige Person geworden. Besonders die vierte Klasse hatte darunter zu leiden. Schwer trug Frau Baumgärtner an der Verantwortung, ihre Schäfchen fit für das Leben zu machen. In der vierten Klasse entschied sich, welche Kinder die Chance erhielten, aufs Gymnasium zu gehen. Hier fand die Auslese statt. Die Gymnasien waren voll. Die meisten Eltern wollten ihr Kind aufs Gymnasium schicken und nur aufs Gymnasium. Frau Baumgärtner sah die Grundschule nicht als Zulieferbetrieb für Gymnasien, das hatte sie wiederholt auf den Elternabenden erklärt.

Die Welt dort draußen brauchte nicht nur Professoren. Versonnen erinnerte sie sich der Lesung von Inge und Walter Jens am Sonntag im Stadtfriedhof. Und nächsten Freitag würde Tony Blair den Theologen Hans Küng besuchen kommen.

Trotzdem, wer räumte noch den Müll weg, wenn er ein abgeschlossenes Studium in der Tasche hatte? Wer stand in der Früh um drei auf und backte Brötchen und setzte sich der Gefahr einer Mehlallergie aus, wenn er Abitur hatte. Nein! über dem Wohl des Einzelnen stand in einer Demokratie und dafür hielt sie das politische System in Deutschland das Allgemeinwohl. Humboldt hin oder her, vor ihr saß mit Elina der Prototyp einer Hauptschulkandidatin. Sehr intelligent, dabei aufmüpfig und frech.

Ich heisse Elina  3. Teil

Die Eltern gaben weder Geld für den Förderverein der Schule, noch kamen sie regelmäßig zu den Elternabenden. Sie entschied ein Exempel zu statuieren. «Elina, ich habe deine Ausreden satt. Einmal ist das Wetter zu schön, um daheim zu sitzen und Hausaufgaben zu machen. Das andere Mal regnet es und du hast leider dein Hausaufgabenheft irgendwo verloren. So geht das nicht weiter. Ich möchte von dir einen Aufsatz zum Thema: Mein Papa Und Seine Arbeit. Zehn Seiten. Du hast zwei Wochen Zeit.» Schadenfroh kicherte es hinter ihr. Elina senkte den Kopf und nickte stumm.

Ihre Nebensitzerin war an der Reihe. Stolz erzählte sie, dass ihr Vater als Arzt arbeite und jeden Tag viele Patienten gesund mache. Wohlwollend nickte Frau Baumgärtner. So viel Menschenliebe in der Familie, da konnte die Tochter ja nur gute Noten nach Hause bringen, dachte Elina und seufzte. Das Radio hatte am Morgen gemeldet, dass Krebs in den nächsten dreißig Jahren Herz-Kreislauferkrankungen als Todesursache Nr. 1 verdrängen werde. Wie sollte sie nur diesen Aufsatz fertig bringen? Ob Stefan ihn ihr am Wochenende für die Schule schrieb? Aber nein, er war ja so beschäftigt. Samstags fuhr er meist die hundert Kilometer zu seinem Vater und half dort. Sonntags bereitete er sich auf die nächste Woche in der Firma vor oder schlief schlicht und einfach den ganzen Tag durch, weil er sich wieder überarbeitet hatte. Sie schrieb gerne ab und zu kleine Geschichten. Für jede Seite bekam sie zwei Mark extra zu ihrem Taschengeld von Stefan. Da war das Thema aber frei. Gruselgeschichten waren einfach spannend. Wenn die Hauptfigur auf einem einsam gelegenen Friedhof eine Nacht als Mutprobe verbringen musste und zwar kein Gespenst sah, jedoch einen Grabstein mit dem eigenen Namen entdeckte, war das einfach super geil.

Ich heisse Elina  4. Teil

Geschichten zu erfinden war kein Problem, auch die zwei Mark bekam sie. Seit Elina jedoch festgestellt hatte, dass Stefan sich noch nicht einmal die Zeit nahm, ihre Geschichten anzuhören, machte auch das keinen Spaß mehr. Sie hatte ihn zudem in Verdacht, sie nicht zu lesen. Tief in Gedanken ging sie nach der letzten Schulstunde nach Hause. Den Nachmittag hatten sie frei, was keine Selbstverständlichkeit in der vierten Klasse war. Heute war Freitag. Sie hatte also noch 13 Tage und einen halben, um herauszufinden, was ihr Vater tat. Eigentlich interessierte es sie schon. Bisher hatte sie nur noch nicht intensiv darüber nachgedacht. Sie wusste viel über die Familien ihrer Freundinnen. Bis auf Petra, deren Mutter geschieden war, überall das gleiche. Meist waren beide, Vater und Mutter, berufstätig. Nur wenn die Mutter ein Baby bekam, blieb sie zu Hause, bis es groß genug war. Dann fing sie wieder an zu arbeiten. Solange die Mutter nicht arbeiten konnte, musste der Vater Überstunden machen, um die Familie über die Runden zu bringen. Oder er hatte einen zweiten Job. Oder die Mutter arbeitete von zu Hause aus. Oder die Familie war reich und die Mutter arbeitete nicht. Auch das gab es. Einen anderen Vater, der von morgens sieben bis abends zehn Uhr oder später nicht zu Hause war, kannte sie nicht. War das normal? Ihr Interesse war geweckt. Wo trieb er sich herum? Hatte er vielleicht eine Freundin, wie Mama manchmal im Scherz sagte, wenn er wieder einmal zu spät nach Hause gekommen war? Weil er seinen Schlüssel vergessen hatte, riss er oft die halbe Familie durch sein Läuten aus dem Schlummer. Elina wurde es heiß und kalt bei dem Gedanken. Sie konnte es sich aber nicht wirklich vorstellen. Hätte er eine Freundin, wäre er sicherlich besserer Laune. Morgens sahen sie sich, wenn sie früh Schule hatte und er spät dran war, wie er es nannte. Und abends sah sie ihn manchmal im Traum. Sie träumte davon, dass er wenigstens einmal am Wochenende Zeit hatte und mit ihr etwas unternahm.

«Die Zeiten, als man noch 16 Stunden täglich arbeiten musste, sind vorbei seit es Gewerkschaften gibt», hatte ihre Lehrerin vor kurzem erzählt. Es ging damals um die Geschichte eines kleinen Jungen, der in England Kamine reinigen musste. Doch nicht in diesem Jahrhundert? Heute gab es Schornsteinfeger. Die Familie des Jungen war sehr arm und er musste deshalb als Kind schon arbeiten. Man nahm Kinder für diese Arbeit, weil sie so klein waren und die Erwachsenen nicht in die engen Schornsteine passten. Es war schrecklich für die Kinder. Manchmal, so erzählte die Lehrerin, blieben sie im Schornstein stecken und man machte unter ihnen ein Feuer, damit sie sich anstrengen sollten herauszukommen. Nicht allen gelang das. Viele erstickten qualvoll. Gut, dass ich nicht früher geboren wurde, als es das noch gab, dachte Elina und sie war plötzlich dankbar gegenüber ihrem Vater.

Ich heisse Elina  5. Teil

Sie war in Deutschland geboren. Ihr Bruder und ihre Mutter waren im Kosovo zur Welt gekommen. Das lag bei Jugoslawien, glaubte sie. Sie hatten in Deutschland Asyl beantragt. Der Asylantrag wurde abgelehnt, obwohl in der Heimat Krieg herrschte. Sie bekamen nur eine sogenannte Duldung. Alle drei Monate musste Mutter, als sie noch in Düsseldorf wohnten, zum Ausländeramt und sie wussten nicht, ob ihre Duldung wieder für drei Monate verlängert werden würde.

Ihr erster Papa starb an Lungenkrebs, da war sie gerade vier geworden. Ihre Eltern bekamen keine Arbeitsgenehmigung. Die Herumsitzerei vor dem Fernseher und die Ungewissheit über die Zukunft seiner Familie gaben ihm den Rest. Er starb damals einen Tag vor Weihnachten. Ein Jahr später hatte Mama dann Stefan kennen gelernt .Einen Studenten, der tags studierte und nachts am Bahnhof Züge reinigte. Ja, er arbeitete als Putzmann. Sie hatte es keiner von ihren Freundinnen erzählt, weil sie Angst hatte, die würden sie auslachen. Mama heiratete dann Stefan und durfte endlich arbeiten. Elina dachte, sie würden irgendwann in ein großes Haus umziehen oder auch nur eine große Wohnung. Sie kannte keine Familie, die in zwei Zimmern zu viert lebte, obwohl sie einmal gelesen hatte, das solle es in armen Ländern geben.

Sie aß zu Mittag, während der Fernseher lief. Ein Professor Kernig aus Freiburg, fragte in einer aufgezeichneten Vorlesung, was die größte Katastrophe im 20. Jahrhundert war. Und beantwortete die Frage gleich selbst. Sinngemäß sagte er, dass in insgesamt zwei, drei Jahren vor und nach 1960 in Maos China mehrere hundert Millionen Menschen der Bevölkerungsstatistik entfielen. Entweder waren sie verhungert oder aufgrund politischer Drangsalierung ihrer potentiellen Eltern nicht geboren.

Stefan und Mama schliefen im Wohnzimmer. Es war eine Couch, die man ausziehen konnte. Legte man dann Bettzeug darauf, hatte man ein Bett für zwei. Elina schlief mit ihrem Bruder im anderen Zimmer. Es war ein Hochbett. Sie schlief oben. Es war im Sommer oben immer zu warm, auch wenn man das Fenster offen hatte.

Ich heisse Elina  6. Teil

Salla, ihr Bruder sah oft bis tief in die Nacht fern oder lernte. Sie konnte abends lange nicht einschlafen. Manchmal raschelte und rumorte es auf dem Balkon, wo sie die gelben Tüten mit Recyclingmüll aufbewahrten. Am nächsten Morgen pflegte Salla sie beim Frühstück damit aufzuziehen. «Unser Untermieter, die Ratte war ja wieder ganz schön aktiv», sagte er. «Ratten sind intelligent und unverwüstlich. Nach einer atomaren Katastrophe werden sie wahrscheinlich überleben und uns beerben. Sie werden in unseren Betten schlafen und von unserer Nutella essen.»

Elina verzog das Gesicht. Sie saß in ihrem Schlafzimmer, das zugleich ihr Ess- und Lern- und Fernsehzimmer war. Elina schlug die Beine übereinander. Alle logen, sie war doch zu dick um die Oberschenkel herum. Sie beschloss Vegetarierin zu werden. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass deshalb auch nur ein Huhn, ein Schwein, ein Kalb weniger geschlachtet wurde. Welches Mädchen getraute sich zu sagen, ich esse Gemüse und Salat und Obst, weil ich Angst habe dick zu werden? Nein, als Vegetarierin gegen das Töten von Tieren zu sein, klang sehr viel edler. Das erste war Egodenken, das zweite scheinbar Uneigennützigkeit.

Elina aß gerne. Konnte sie die guten Vorsätze nicht einhalten, so war eben Rosalina, ihre Mama schuld. Rosalina liebte Fleischgerichte über alles und scherte sich nicht um ihre Linie. Extra für ihre Tochter Grünfutter zu bereiten, damit diese aschfahl daherkam und irgendwann zusammenbrach? Das würde sie sicher nicht zulassen. Elina hakte den Entschluss Vegetarierin zu werden ab. Es gab genug Probleme, sie musste sich nicht noch extra welche machen.

© 2000 – 2011 Hans-Jürgen John

Ende der Leseprobe

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