Spurensuche von Hans-Jürgen John

Eine Gnade und Möglichkeit, die vielen Vertriebenen zu Lebzeiten verwehrt blieb, war die Reise hinter den Eisernen Vorhang in die frühere Heimat. Ich begleitete meinen Vater Richard John nach Polen Jahre, nachdem West- und Ostdeutschland wiedervereint waren.

Es war teils eine Reise in die Vergangenheit – wir trafen eine alte Frau an, die in einer Hütte neben dem Elternhaus meines Vaters lebte und ihn aus ihrer gemeinsamen Jugendzeit kannte. Und es war teilweise eine Reise zu unveränderten und ihm vor nahezu 60 Jahren bekannten Gegebenheiten wie Pferdefuhrwerke auf mitunter unbefestigten Straßen.

An der Stelle des Elternhauses meines Vaters war ein anderes Gebäude errichtet. Scheu winkten die Bewohner aus den Fenstern uns zu. Sie wussten nicht, wer wir waren und wir drängten uns nicht auf. Es beschäftigte meinen Vater sichtlich. Die Vergangenheit hielt mit ihm Zwiesprache. «Wäre der Krieg nicht gewesen, wäre ich wohl noch immer hier», sagte er und ließ den Blick wandern zum Waldrand und über die Felder, die abgeerntet waren. Und es war nicht sicher, ob er traurig darüber war oder nicht.

Mein Vater war noch mehrmals in Polen. Er traf dort Verwandte und Bekannte. Eine Reise in die Vergangenheit, wenn die Zukunft im längst erreichten Rentenalter Zeit zur Besinnung lässt und die Erinnerung mit der Gegenwart zusammenfließt.

Ich erinnere mich an Ferien in Lodz mit Nachkommen früherer Nachbarn meines Vaters. Fröhliche und aufgeweckte Menschen, die von den Schatten des Krieges und Geschichten darüber wenig wissen möchten und in die Zukunft schauen. Und das ist gut so.

Doch wie kann man anders weiter Krieg verhindern, wenn man nicht über ihn redet? Ihn, der sich in der Menschheitsgeschichte mit Gewalt, Gräuel, Mord und unendlichem Leid festgeschrieben hat und es über die Jahrtausende immer wieder schafft, neue Täter und Opfer hervorzubringen. Doch kehren wir die Tatsachen nicht um. Die Menschen sind es, die sich seiner bedienen und nicht umgekehrt. Und so ist es nur folgerichtig, wenn sie unter seinen Folgen leiden. Vielleicht gewinnen sie nur so die Energie, um sich von ihm immer wieder zu distanzieren?

Wäre der Krieg nicht gewesen, wäre mein Vater nicht verwundet worden, wäre er nicht aus Polen vertrieben worden, hätte er meine Mutter nicht getroffen, wäre ich nicht geboren worden.

Wäre ich nicht geboren worden … sicher hätte ich das verkraftet, wenn es den Krieg dafür nicht gegeben hätte. Was wäre wenn … .

© 2013 Hans-Jürgen John

Hans-Jürgen John ist auf Twitter, auf Facebook und bloggt u.a. auf Johntext Schweiz.

 

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