Ich bedauere sehr, dass ich nicht schon als Kind Tagebuch geschrieben habe. Zum einen hätte ich dann all die Geschehnisse, die zu mir und meinem Leben gehören en détail parat.
Zum anderen stelle ich mir vor, dass so manche Konfliktsituation in der Eltern-Kind-Konstellation sich leicht entschärfen ließe. Eltern lesen die Tagebücher ihrer Kinder und können so behutsam Schwerpunkte in der Erziehung anpassen. Nicht? Wie sollen sie dann wissen, welche Probleme ihr introvertiertes Kind beschäftigen? Geht hier die Privatsphäre oder der Schutz des Kindes vor? Letzteres.
Die schwierige Lebenssituation, in der beide Elternteile arbeiten (arbeiten müssen, weil ein Lohn kaum ausreicht, um die Familie zu ernähren) und ihre Kinder (sogenannte Schlüsselkinder) nach Hause kommen und alleine das Essen zubereiten oder gleich zu Mac Donalds gehen lässt wenig Spielraum für Experimente. Diese Kinder werden früh selbstständig. Die Gefahr, dass sie mangels Anleitung und Beschäftigung in schlechte Gesellschaft kommen ist gleichwohl hoch.
Sind beide Elternteile zu Hause, wenn die Kinder von der Schule kommen, ist dies auch nicht der Idealfall. Komplette Supervision und Anleitung den ganzen Tag hindurch verhindert, dass solche Kinder selbstständig werden.
Der ganze Tagesablauf wird mitunter überregelt. Ein solches Kind war ich.»Autoritär behütet» bin ich aufgewachsen. Dieser Begriff trifft meine Kindheit am ehesten. Ein Kind trägt schwer an autoritärer Strenge. Wie will es verstehen, dass es zu Hause über Büchern sitzen muss, während die Spielkameraden hinter dem Fußball hinterherjagen oder am Baggersee die Seele baumeln lassen? Und welchen Zweck soll es haben, über Büchern zu sitzen aber mit den Gedanken bei den Freunden in der Freizeit zu sein? Keinen.
Und doch bin ich meinem Vater dankbar. Ich bin kein oberflächlicher Typ geworden. Zu viel Tiefgang schadet nur in seichten Gewässern. Auf hoher See bringt hoher Tiefgang Stabilität ins Schiff und Sicherheit bei gewagten Manövern. Die Navigation in schwerer See fällt mir mitunter leichter als anderen. Schicksalsschläge drücken mich tief und belasten jeden Lebensmoment aber lassen mich nicht ertrinken. Ich bin stabil nach innen und labil nach außen. Umgekehrt wäre es schlimmer.
Immer wieder muss ich an die Aussagen meines Vaters denken. Er lebt weiter durch sie. Über die Schule meinte er immer und immer wieder: «Was Du gelernt hast, kann Dir niemand nehmen.» Als ich schon älter war, mussten wir einen Aufsatz über den Sinn von Sprichwörtern schreiben. Ich kam zu dem Ergebnis, dass sie zu allgemein gefasst seien, als das sie ungeprüft auf jede scheinbar passende Situation angewendet werden könnten. Und doch wären sie eine große Hilfe für jene Menschen, die steuerlos im Lebensmeer treiben und jede Boje als Rettungsinsel und Verschnaufpunkt sehen.
Die Aussagen meines Vaters waren situationsbezogen und nicht immer ernst gemeint. Tat ihm jemand einen kleinen Gefallen, so sagte er schalkhaft: «Gott wird Dir danken.» War es bei ihm an der Reihe etwas für andere zu tun, meinte er danach augenzwinkernd: «Mit einem Danke kann ich meine Kinder nicht verhalten.»
Auch zu Geschenken hatte er seine Meinung. «Nichts nehmen und nichts geben.» Ein um das andere Mal wiederholte er das, vor allem in der Vorweihnachtszeit. Geschenke waren für ihn ein Mittel, um Menschen sich gewogen zu machen, also überflüssig.
Wenn ich so zurückdenke, haben mir seine Aussagen so manches Mal geholfen. Mein Verhalten wurde davon beeinflusst. Immer nur nach vorne zu schauen ist nicht nur im Straßenverkehr gefährlich. Oft hilft der Blick zurück in die Vergangenheit und die Frage: Wie hätte sich meine Mutter / mein Vater in dieser Situation verhalten?
© 2013 Hans-Jürgen John
Hans-Jürgen John ist auf Twitter, auf Facebook und bloggt u.a. auf Johntext Schweiz.