Wie man vergibt
— Lesungstext vom 25.09.2010 in Karlsruhe —
Wenn es um Vergebung geht, fällt mir zuerst die Religion ein. In der Bibel ist die Vergebung der Sünden für die Gläubigen im Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen geregelt: «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern (Matthäus 6,12).“
Schlägt man die Tageszeitungen auf, gewinnt man den Eindruck, das Wort „Konfrontation“ ist in der Familie, zwischen gesellschaftlichen Gruppen wie unter Staaten der Vergebung weit vorangestellt.
Wieso ist das so? Die Konfrontation soll scheinbar Vorteile bringen. Jeder möchte sich durchsetzen. Raubüberfälle, Verkehrsunfälle und Familiendramen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Tagesgeschehen. Wo bleiben die guten Nachrichten?
Die Medien berichten einseitig, sagen die einen. Die Menschen interessieren sich für negative Nachrichten mehr, sage unter anderem ich, und sie werden damit bedient.
Also beginnen wir beim einzelnen Menschen nach „guten Nachrichten“ wie der Vergebung zu suchen.
Die Vergebung
Haben Sie das auch schon erlebt? Etwas passiert und Sie werden wütend. So richtig wütend. Jemand tut Ihnen unrecht. Womöglich sitzt dieser Jemand am längeren Hebel und Sie können wenig unternehmen. Es gibt wenig schlimmeres als ohnmächtige Wut.
Ich kann mich erinnern, wie es bei mir war. Ein Administrator bei Wikipedia löschte die Seite „Hans-Jürgen John“ unter der Rubrik „Deutsche Schriftsteller“ mit allen Links und den Hinweisen auf meine Geschichten. Nun muss man wissen, dass Wikipedia ein Online-Lexikon ist, das von jederfrau und jedermann lektoriert und ergänzt werden kann.
Da kommt also einer daher und löscht den Hinweis auf die Arbeit von 17 Jahren. An und für sich kein Beinbruch. Doch dann sehe ich, dass das Löschdatum manipuliert ist. Es wurde auf den Januar 2007 rückdatiert. Wohl um eine ansonsten fällige Löschdiskussion in 2010 zu vermeiden.
Die Seite „Hans-Jürgen John“ war in 2010 noch Bestandteil von Wikipedia. Wenn mich jemand für so wichtig hält, dachte ich mir, dass er gleich solche Mittel einsetzt, dann fühle ich mich geehrt und halte den Vorgang immer noch für keinen Beinbruch.
Doch dann stellte ich mir vor, wie eine politische Gruppierung, die eigene Absichten verfolgt, mehrere Admins bei Wikipedia einschleust und so Ihre Sicht der Dinge quer durch alle Bereiche der Lexika durchsetzt. Geschichte könnte so umgeschrieben werden. Peu à peu und kontinuierlich. Kein Problem mittels Fälschung von Löschdaten und Vermeidung von Löschdiskussionen. Jetzt gehe ich auf die Barrikade. Ich beginne mit Buchstaben und Sätzen zu werfen.
Als ich mich vor Jahren beim Tage-bau als Textbauer bewarb und anmeldete, musste ich eine Kopie meines Personalausweises einsenden. Ich schreibe unter meinem Namen im Netz und ich stehe zu dem, was ich schreibe. Jemand, der über Jahre einige Tausend Wikipedia Seiten geändert bzw. gelöscht hat, darf dies unter einem anonymen Benutzernamen tun.
Inzwischen habe ich mich mit mehreren Themen aus der Sparte Lebenshilfe befasst. „Wie man liebt“. „Wie man Probleme löst und Ziele erreicht“. Und jetzt: „Wie man vergibt“.
Das hat mir gezeigt, dass über jeder Sache der Mensch im Vordergrund stehen muss. Es gibt nichts wichtigeres, als den Mitmenschen. Ich habe mich dazu hinreissen lassen, unbedingt die Identität des betreffenden Admins bei Wikipedia herausfinden zu wollen. Alles was ich jetzt im Rückblick sehe ist, dass ich einen Standpunkt hatte und den ohne Rücksicht durchsetzen wollte. Das war und ist falsch. Somit entschuldige ich mich hiermit bei diesem Admin bei Wikipedia und lasse die Sache auf sich beruhen. So sehr ich mich im Recht fühle. Ich bitte um Vergebung.
Das ist nicht leicht, merke ich. Das ist so, als würde man sich tief verbeugen und dem eigenen Schatten ins Gesicht sehen. Noch während man sich verbeugt, wird der Schatten plötzlich länger und länger. Und sobald man sich wieder aufrichtet, ist man wie befreit.
Das Vergessen
Kürzlich sah ich mir mit Freunden ein Geburtstagsvideo an. Es waren zwei Wochen seit der Feier vergangen. Die Menschen darauf lachten und waren fröhlich. Und obwohl ich bei dem Fest dabei war und den Film teilweise mit aufgenommen hatte, waren mir so viele, schöne Szenen dem Gedächtnis entfallen. Das ist wohl einer der Gründe, wieso ich schreibe. Mit einem Sieb als Gedächtnis ist man auf Papier und Bleistift oder das Notebook angewiesen.
Andere wiederum vergessen kaum etwas. Sie haben diese Fähigkeit, sich Menschen, Daten und Geschehnisse zu merken und können diese meist auch zeitlich zuordnen und abrufen. Welch eine Gabe, sage ich, der Vergessliche.
Dann gibt es noch die Ereignisse, die nicht vergessen werden dürfen. Die Erinnerung daran muss in den Köpfen der jungen Generationen wach gehalten werden, um zu verhindern, dass Sie sich wiederholen. Immer wieder denken wir an den Holocaust oder werden daran erinnert. Das ist gut so.
Religionen dienen vielen Menschen als Wegweiser. Sie dienen dem Wohl des Menschen und regeln die Einzelheiten im Miteinander und Zueinander. Religionen sollen kaum zwischen den Menschen stehen und falls die Erinnerung an den Holocaust zukünftige Freundschaften und ein Miteinander verhindert, ja Menschen heute noch gegeneinander aufbringt, dann ist das falsch. Der Blick zurück darf nicht den Blick nach vorne ersetzen.
Im täglichen Leben der Menschen untereinander ist die Vergebung die Mutter des Vergessens. Es mag wohl Zufall sein, dass hier der weibliche und der sachliche Artikel zum Vergleich passen. Die Vergebung, das Vergessen. Die Vergebung ist die Mutter des Vergessens. Erst wenn Sie vergeben können, dürfen Sie vergessen und Ihr Leben unbeschwert weiter führen.
Und ist es nicht so, dass wir im Arbeitsleben vom Alltag umschlungen sind wie von einer Python, deren Kopf sich dem umwundenen Opfer nähert und es hypnotisiert?
Erst im Alter, wenn die Gedanken weniger gehetzt klingen, kommt mit der Ruhe die Vergangenheit vorbei und setzt sich uns gegenüber an den Tisch. Sie isst das Gleiche wie wir, sie begleitet uns überall hin und lässt sich kaum abschütteln.
Bis wir erkennen: Die Vergangenheit ist ein Teil von uns. Sie beginnt uns ein Ereignis nach dem anderen zu servieren. Jeden Streit ohne Versöhnung, jede Ungerechtigkeit, jede Schuld. In manchen Fällen ist es dann zu spät, um um Vergebung und Verzeihung zu bitten. In anderen ist die Hürde, Stolz genannt zu hoch, um sie jetzt noch zu nehmen. Allerhand Ausreden fallen uns ein. Vielleicht ist der Betroffene längst weggezogen oder verstorben. Umso schlimmer. Für uns.
Sie kennen doch sicher diese grossen Vulkane, die zuerst unterirdisch schlummern, bis sich genügend Druck angesammelt hat und sie Asche oder Gestein oft kilometerweit in die Atmosphäre speien. Lassen Sie es bei sich nicht so weit kommen. Dinge, die unerledigt sind, lagern in ihrem Unterbewusstsein und blockieren Ihre Lebenslust. Ihr Bewusstsein serviert Ihnen dann die betreffenden Ereignisse immer wieder – bis Sie Ihre Hausaufgaben gemacht haben.
1.Regel: Machen Sie den ersten Schritt und legen Sie Streit bei.
Es ist zu Ihrem Vorteil, wenn Sie vergeben. Es kommt zu einer Aussprache, Missverständnisse werden ausgeräumt. Vielleicht hegen Sie einen Groll gegen jemanden, der unberechtigt ist. „To know all ist to forgive all“ – „Alles zu wissen, bedeutet alles zu vergeben“ hat einmal ein weiser Mann gesagt. So oder so. Führen Sie eine Entscheidung herbei.
Was hat denn nun das eingangs erwähnte Vergessen mit Vergebung zu tun? Wenn Sie jede Ungerechtigkeit im Gedächtnis behalten, wird es schwer für Sie zu vergeben. Sie fühlen sich im Recht. Das ist der grösste Hinderungsgrund für die Beilegung von Streit.
Das Recht haben wollen, möglichst mit Urkunde und Urteil vom Gericht. Und so wird mit Anwälten und Gutachtern gestritten, bis entweder das Geld ausgeht, die Gegenseite gewinnt oder die letzte Instanz erreicht ist.
Das Verständnis
Die Vergebung ist die Mutter des Vergessens. Unser Kopf ist wieder frei für Neues. Untrennbar zu dieser Familie gehört das Verständnis. Wie soll ich jemanden verstehen, der gegen mich vorgeht, der mich verletzt, der mir schadet? Versetzen Sie sich in Ihr Gegenüber. Wie kommt wohl Ihr Verhalten bei dem anderen an? Egal, ob es sich um Beziehungsstreit, Nachbarschaftskonflikte oder Spannungen zwischen Staaten handelt. Versuchen Sie das Verhalten Ihres Gegenübers zu verstehen und Sie werden Lösungen finden, um Konflikte aufzuweichen.
2.Regel: Versetzen Sie sich in Ihre Mitmenschen und versuchen Sie zu verstehen.
© 2010 Hans-Jürgen John